Je suis Hamburg

Bild: Andreas Grieß
auchbeimopo, Debatte

In den vergangenen Tagen habe ich Hamburg verteidigt. Bekannte schrieben mir, diese Stadt sehe aus wie im Kriegszustand, es herrsche das Chaos. Immer wieder erhielt ich Nachrichten, in denen ich gefragt wurde, ob es mir gut ginge. Ja, ich habe keinen Grund zu klagen. Doch zugegeben, ich war nicht in der Schanze, als sich dort nicht einmal die Polizei mehr vorwagte. An diesem Abend war ich nicht einmal in Hamburg.

Was dort und was in einigen Straßenzügen zuvor morgens zum Beispiel in Altona geschehen ist, ist selbstverständlich schockierend. Auch mich hat es erschrocken und angewidert. Doch keineswegs sah es in ganz Hamburg so aus. In keinster Weise war das Hamburg. Wer glaubt, dass Hamburg drei Tage lang Sin City war, der übersieht die vielen guten Dinge.

Friedlich, unbehelligt und ohne Angst konnte man an vielen Orten laufen gehen. Als am Donnerstagabend der Verkehr zusammenbrach, verteilten Nachbarn Getränke und Süßigkeiten an die steckengebliebenen Pendler. Am Donnerstag habe ich weite Teile der Demonstrationen, die aus der „Welcome to hell“-Demo hervorgingen, aus unmittelbarer Nähe mitverfolgt. Ja, die Stimmung war angespannt. Ja, es gab große Polizei-Präsenz und Beschimpfungen, aber es gab auch jede Menge Verständnis und Versöhnung. Besonders im Gedächtnis bleibt mir eine Szene, in der ein Polizist in voller Montur mit einigen Demo-Gästen spricht. Offenbar kennen sich beide Seiten. Man lacht, schüttelt einander die Hände und verabschiedet sich mit einem gegenseitigen „Bis die Tage und pass auf dich auf“.

Eindrucksvoll auch die Aufräum-Aktion in der Schanze. Noch während die Ausschreitungen im TV zu sehen sind melden sich via Facebook mehrere Tausend Personen für eine Hilfs-Aktion am nächsten Morgen, weitere zehntausende drücken auf Interessiert. Natürlich kommen nicht so viele am Folgetag, aber doch sehr viele, wie dieses Video zeigt:

Viele Fragen nun: Welches Bild von Hamburg geht um die Welt? Es liegt auch an uns Hamburgern, das zu entscheiden. Denn Hamburg, das ist nicht die Elbphilharmonie, die Rote Flora und die Messehallen. Hamburg, das sind rund zwei Millionen Menschen, die jeder jeden Tag eine Geschichte schreiben. Die sich entscheiden, bei Krawallen ein Selfie zu machen oder einem Unbekannten im Stau ein Glas Wasser zu reichen. Oder vielleicht sogar beides.

Es wird aktuell viel darüber gesprochen, ob entschiedener gegen Linksextremismus vorgegangen werden muss. Es wird darüber diskutiert, ob die Randale politisch war oder nicht. Der gängige Tenor lautet, dies seien einfach nur Kriminelle gewesen, die Scheiben zerschlugen und Autos anzündeten. Doch ob politisch oder nicht: Wir müssen uns als Gesellschaft die Frage stellen, wie es sein kann, dass wir einige Menschen nicht erreichen. Ob sie nun Lügenpresse und Volksverräter rufen, oder Autos anzünden. Wir müssen uns die Frage stellen, warum nicht nur Gewalttäter, sondern auch viele andere „Ganz Hamburg hasst die Polizei“ rufen. Wir müssen uns die Frage stellen, warum wir mehr darüber wissen wollen, wo und wie Autos angezündet wurden, als was die Staats- und Regierungschefs miteinander besprochen haben.

Ich glaube, die wahre Auseinandersetzung verläuft nicht zwischen links und rechts. Sie verläuft nicht zwischen reich und arm. Und sie verläuft auch nicht zwischen „denen, da oben“ und „uns, hier unten“. Sie verläuft zwischen denen, die aufbauen, und denen, die zerstören. Sie verläuft zwischen denen, die kooperieren, und denen, die an ihre eigenen Vorteile denken. Diese Auseinandersetzung konnten wir in den vergangenen Tagen auf dem Gipfel und abseits von ihm beobachten.

Wer diese Auseinandersetzung gewinnt, ist offen. Es liegt an uns allen. Und Hamburg ist noch immer, nein: vielleicht gerade jetzt in der Lage, Antworten darauf zu geben. Denn Hamburg ist nicht der G20-Gipfel und Hamburg ist nicht Randale auf der Schanze. Hamburg, das sind rund zwei Millionen Menschen, die jeder jeden Tag eine Geschichte schreiben.

Über

Andreas kam 2010 zwei Monate für ein Praktikum nach Hamburg. Im Sommer 2012 kehrte er nach abgeschlossenem Studium zurück, um hier als Journalist zu arbeiten. Twitter: @youdazandreasgriess.de Redaktionsleiter von Elbmelancholie

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