Neunzigste Minute im Wildparkstadion, Karlsruhe. Nur noch wenige Sekunden bis zum Abpfiff und dem ersten Abstieg des Hamburger SV. Rajkovic versucht es noch einmal mit einem verzweifelten Schuss und trifft den Arm des Karlsruhers Meffert. Schiedsrichter Manuel Gräfe entscheidet auf Freistoß. Rafael van der Vaart und Marcelo Diaz legen sich den Ball zurecht.
Währenddessen in Hamburg bei einem größeren Public-Viewing: Alle sind sich sicher – das ist die allerletzte Chance. Und alle sind sich sicher: Das wird die letzte Aktion von Rafael van der Vaart. Das Ding wird meilenweit daneben gehen, weil „Raffa“ längst nicht mehr der ist, der er einmal war. Genauso wie der HSV. Oder das Ding wird genau in den Winkel gehen, weil „Raffa“ es ein letztes Mal allen zeigt, die ihn bereits abgeschrieben hatten. Genauso wie der HSV. Dazwischen geht es nicht.
Dann schießt Marcelo Diaz. Damit rechnete keiner der Zuschauer. Damit rechnete keiner der Karlsruher. Und der Ball ist im Tor. Ausgleich. Verlängerung. Jubel in Hamburg.
Es kam anders als erwartet und wurde deshalb zum Erfolg. Es machte jemand, der vermeintlich schlechter ist und machte es besser. Und das konnte er, weil man ihn ließ. Oder anders ausgedrückt:
Knäbel: "Das war der beste Freistoß den van der Vaart nie geschossen hat" #HSV
— BILD Hamburger SV (@BILD_HSV) June 1, 2015
Manchmal lohnt es, Verantwortung abzugeben. Manchmal ist es die Aufgabe derer im Rampenlicht, die ihnen geschenkte Aufmerksamkeit zu nutzen, um anderen eine Chance zu ermöglichen. Mal wie in Karlsruhe, als van der Vaart die Konzentration des gegnerischen Torhüters auf sich zog, und so Diaz den Schuss ermöglichte. Und mal auch genau anders herum, indem man aller Welt zeigt, was andere tun, können oder eben nicht tun oder können. Eine solche Aufgabe kommt Medien oft zutage, aber auch Prominenten, wenn sie sich etwa für einen guten Zweck einsetzen. Aufmerksamkeit ist kein Selbstzweck, daran sollte das Tor in der Schlussphase uns erinnern.
Und: Oft ist eben nicht die vermeintlich erste und logische Wahl auch die Beste. Manchmal ist das Naheliegende nur naheliegend, weil wir zu faul sind, den weiteren Weg zu gehen. Der Freistoß von Marcelo Diaz zeigt uns, dass es lohnt über Alternativen nachzudenken, weil sie erfolgreich sein können. Wir können Hamburg statt Berlin ins Olympia-Rennen schicken. Wir können Zucchini statt Hühnchen grillen und wir können mit Mitte Dreißig noch eine neue Ausbildung beginnen, statt den Rest des Lebens unglücklich im Job zu sein. Freilich müssen wir das alles nicht tun, schon gar nicht dogmatisch, aber wir können es. Und keiner sollte deshalb schon vorab Abstiegsgesänge anstimmen.
„Gerecht“ und „Fair“ sind nicht immer identisch
Noch etwas anderes lehrt uns dieser Freistoß am Montagabend in Karlsruhe. Während die HSV-Spieler und Anhänger ein letztes Mal, wie wir nun wissen, zu Recht Hoffnung schöpfen, sind die Karlsruher außer sich ob dieser Entscheidung von Schiedsrichter Manuel Gräfe. Sie sahen kein Regelvergehen. Auch ARD-Kommentator Steffen Simon spricht von einer Fehlentscheidung. Die TV-Bilder geben ihm Recht, wenngleich eine ähnliche Entscheidung auch in der Vergangenheit wohl schon viele Male als Freistoß entschieden worden ist.
War die Situation also letztlich unfair? Zuvor hatte der HSV eine Reihe guter Gelegenheiten, die er nicht verwandelte. Dass dann doch noch der Ausgleich fiel, war, wie man im Fußball sagt, dem Spielverlauf folgend durchaus gerecht. Geht das? Kann etwas unfair und doch gerecht sein?
Ja, das kann es. Und in diesen Situationen lernen wir besonders viel über uns und über Andere. Sind wir gute Verlierer oder suchen wir die Schuld bei Anderen? Und sind wir gute Gewinner, die trotz unseres Sieges versuchen, Gerechtigkeit und Fairness zu fördern? Vor wenigen Tagen bestätigte das Oberverwaltungsgericht, dass der Bau eines Flüchtlingsheims in Harvestehude nicht rechtens ist. Was gerecht ist und was fair, da gehen auch hier die Meinungen weit auseinander. Während die einen offen anzweifeln, was fair ist – dass Flüchtlinge in allen Stadtteilen untergebracht werden – zweifeln die anderen an, was Recht ist, nämlich die gesetzlichen Grundlagen und richten ihren Zorn auf die Richter, statt die Gesetzgeber.
Im Sport geht es emotional zu. Und er zieht seine Spannung daraus, dass es nicht immer fair, nicht immer gerecht zugeht. Hier dürfen wir uns aufregen. Hier dürfen wir uns freuen. Hier dürfen wir auch mal weinen. Und im besten Fall stehen wir danach auf, reichen unserem Konkurrenten die Hand und haben beide etwas gelernt.
Im Anschluss an das Relegationsspiel übertrug die ARD übrigens „Hart aber Fair“. Das war weder spannend noch erkenntnisreich.
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