„Schwer ist es in Hamburg einen Hamburger zu ertappen“. Mit diesen Worten beginnt der Wahl-Hamburger Schriftsteller Siegfried Lenz seine Erzählung „Leute von Hamburg“ aus dem Jahr 1968. Eher als Hamburger, treffe man hier Pinneberger oder alles mögliche an Fischgetier, Makrelen oder Krebse zum Beispiel. Lenz‘ Erzähler sitzt auf einer Veranda und betrachtet die Hamburger durch ein geschliffenes Rumglas, dass seine Vorstellung symbolisiert. Dabei kommen an ihm hanseatische Kaufleute vorbei und eine Fremdsprachenkorrespondentin, Schüler und Polizisten. Ihnen allen bescheinigt der Beobachter etwas hanseatisches, maritimes. Als würde ihr Ziel der Hafen sein und als würde Hamburg immer noch im kolonial-kaufmännischen Zeitalter stecken.
Gedanklich befindet sich der Beobachter zunächst Alster. Dort ist ein Künstler ansässig, der die immer gleichen Bilder von der Hamburger Alster malt, die es dann in die Wartezimmer der Arztpraxen bis nach Blankenese schaffen. Auch eine Journalistin kommt unter das Rumglas und wird mit spitzer Zunge umschrieben. Welchem Medium sie angehört, kann man an dem Ausdruck „menschlich sehen“ erkennen. („Menschlich Gesehen“ ist das tägliche Miniporträt eines/er Hamburgers/in im Hamburger Abendblatt.)
„Die vorbeistürzende Dame ist eine der viel gefürchteten Hamburger Journalistinnen, beruflich unterwegs, um einen musikalischen Postboten menschlich zu sehen oder um schonungslos eine Misshandlung von Goldfischen aufzudecken.“ Selbst der Hamburger Lokaljournalismus bekommt in dieser Erzählung sein Fett weg.
Das Glas bewegt sich vom Jungfernstieg an die Landungsbrücken und beobachtet das Hafentreiben, das Theatertreiben und Betrunkene des Nachtlebens. Der mittlerweile gut angeheiterte Erzähler versucht immer noch das hamburgische im Hamburger zu finden und meint, es sei ein besonders einprägsamer Schutzanstrich, der von keinem Regen abgewaschen werden kann.
Seeleute, Fischer und hanseatische Kaufleute – das sind alles Attribute, die Hamburg nur noch in einem gewissen Teil ausmachen. Wofür steht Hamburg heute? Was ist heute „typisch hamburgisch“? Und kann man das nur mit Hilfe von einem Glas Rum herausfinden?
Dies sind die Fragen, die man sich beim Lesen dieses schönen Kurzporträts der Stadt stellt. Man hat all die Personen, die beschrieben werden, vor dem inneren Auge und kann sie mühelos auf heutige Gestalten, die einem an der Alster, am Hafen und sogar auf der Reeperbahn begegnen, anwenden. Die Hamburger haben immer noch etwas kühl-elegantes an sich. Allerdings könnte sich Siegfried Lenz einmal, wenn er möchte, mit einem Glas Rum in die Schanze setzen. Da würde er heutzutage laute, fröhliche und aufgeschlossene Hamburger treffen, ganz ohne Hafen-Bezug.
Im Oktober 2014 erscheint bei Hoffmann und Campe eine neue Ausgabe mit einem Vorwort zu der Erzählung von Helmut Schmidt und Illustrationen von Klaus Fußmann.
Siegfried Lenz
„Leute von Hamburg
Meine Straße“
Verlag dtv
5,90 Euro
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